Heinz Vontin: Das Neuköllner Rollbergviertel anno 1960

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Um die Sli­de­show zu star­ten bitte auf das Bild kli­cken; Fotos mit freund­li­cher Geneh­mi­gung von Heinz Vontin;

Bei einer Recherche über das Neuköllner Rollbergviertel sind wir auf eine großartige Fotoserie des Fotografen Heinz Vontin (geb. 1923) gestoßen. Er hat sich sein Leben lang intensiv mit der Fotografie auseinandergesetzt und ist seit 1969 Mitglied der Deutschen Gesellschaft für Photographie.
Heinz Vontin wuchs im Neuköllner Rollbergviertel zwischen Hermann-, Falk-, und Kienitzer Straße auf. 1960 kam er als Tourist nach Berlin zurück und fotografierte die Orte, die für ihn als Kind seine Heimat bedeuteten–beziehungsweise das, was davon nach dem Krieg übrig noch geblieben war. Nur wenige Jahre nach Vontins Besuch fiel das Quartier der Kahlschlagsanierung zum Opfer. Um so wertvoller sind aus heutiger Sicht seine Fotos und Erinnerungen:

„Ich bin 1923 im Rollbergviertel in der Steinmetzstraße 39 geboren worden. Seit 1952 heißt sie Kienitzer Straße. Mein Geburts-Hinterhaus ist auf den Fotos nicht abgebildet, weil es im April 1945 durch eine Sprengbombe total zerstört wurde. Mehrere meiner Fotos zeigen die Bombenlücke zwischen den unversehrt gebliebenen Nachbarhäusern zwischen Hermannstraße und Falkstraße. Nach Wehrdienst, Gefangenschaft und Studium verließen mein Bruder und ich 1952 Berlin. Bei meinem ersten Urlaub in Berlin 1960 fotografierte ich, nun als Tourist, das Rollbergviertel, um meinem Bruder zeigen zu können, was aus dem Rollberg geworden ist. Es waren zwar belanglose Fotos, doch mit für uns sehr wichtigen Bildinhalten. Da ist z.B. auf dem einen Foto eine Puppenklinik zu sehen, die sich direkt unserem Haus gegenüber befand. Zu diesem Geschäft gehörte auch das Fenster rechts daneben, das einen Sims hatte, der sich für Kinder als Sitzbank anbot. Auf diesem Sims, der uns Kindern zum ständigen Treffpunkt wurde, haben wir täglich mehrere Stunden zugebracht, viel mehr Stunden als in unserer Wohnung, die ziemlich dunkel und kalt war. Einen solchen Hintergrund kann der unvoreingenommene Betrachter natürlich nicht erkennen, weil mit der Fotografie nur gezeigt werden kann, was man von einem Motiv sieht. Man kann nicht abbilden, was man von einem Motiv weiß.“

Natürlich können wir solche Erinnerungen in den Fotografien von Heinz Vontin nicht sehen. Was wir jedoch erkennen können, ist etwas, was nicht als Faktum auf den Bildern abgebildet ist. Sie zeigen eine private Sicht auf einen bestimmten Ausschnitt einer Stadt zu einer bestimmten Zeit. Gerade dieser persönliche Zugang macht – wie bei den meisten guten Fotografien – diese Dokumentation des Rollbergviertels so reizvoll. Es ist die Beziehung des Fotografen zu dem Abgebildeten, was das Bild für den Betrachter interessant macht.
Wie aber wirken die Fotografien auf uns heute, also 53 Jahre später? Da das Rollbergviertel so wie es auf den Bildern zu sehen ist, nicht mehr existiert, schauen wir in eine Vergangenheit ohne konkreten Bezug zur Gegenwart. Wir erkennen zwar das “Es-ist-so-gewesen” als Signal aus fernen Zeiten, können jedoch nicht das Gewesene bezeugen. Wir haben es eben nicht erlebt. Daher erweckt das Betrachten der Aufnahmen in uns den Wunsch nach einer Zeitreise. Wir würden zu gerne um 1960 durch den Kiez spazieren und die Atmosphäre schnuppern, die damals in diesem Viertel herrschte. Unser Wissen darüber, dass die Bilder etwas zeigen, was unwiederbringlich verloren gegangen ist, verstärkt den Wunsch nur. In diesem Sinne können wir uns bezüglich dieser Fotografien nur Heinz Vontin anschliessen, wenn er uns schreibt: „In dem Bewahren sehe ich den eigentlichen Wert der Photographie“.

„Von einem realen Objekt, das einmal da war, sind Strahlen ausgegangen, die mich erreichen, der ich hier bin; die Dauer der Übertragung zählt wenig; die Photographie des verschwundenen Wesens berührt mich wie das Licht eines Sterns.
– Roland Barthes, „Die helle Kammer“

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Click on the image to start the sli­de­show; pho­tos by kind per­mis­sion of Heinz Vontin;

While researching the history of the Rollberg district in Neukölln we came across a great photo series by photographer Heinz Vontin (b. 1923). He has been concerned with photography throughout his life and has been a member of the German Photographic Association (DGPh) since 1969.
Vontin grew up in the area between Hermann-, Falk-, and Kienitzer Straße in Berlin, Neukölln. Shortly after the Second World War he left Berlin. In 1960 he came back as a tourist to photograph the streets of his childhood–or what was left of them after the war. Only a few years after Vontin‘s visit the Rollberg district was declared a renovation area and fell prey to demolition and reconstruction (also known as Kahlschlagsanierung)–a common approach to urban renewal in the 1960s and 70s. The disappearance of the old neighborhood make Vontin‘s photos and memories all the more valuable:

“I was born at number 39, Steinmetzstraße in 1923. Since 1952 the street, which is located in Neukölln‘s Rollberg district, has been called Kienitzer Straße. The house I was born in is not shown in the photos because it was completely destroyed by an explosive bomb in April 1945. Several of my photos depict the gap between the neighboring houses of Hermann- and Falkstraße. After military service, imprisonment and studies my brother and I left Berlin in 1952. When I came back to Berlin as a tourist in 1960, I visited our old neighborhood and took some photos for my brother. The subjects might seem trivial, but they all have a personal meaning for us. There is, for example, one photo that shows a “doll clinic“ store. That building was located directly opposite our house. The window right next to it had a ledge that we used as a bench when we were children. On this ledge we spent several hours every day, more time than in our apartment, which was very dark and cold. The unbiased observer obviously won‘t be able to guess the background of these images. Photography can only show what one can see. What you know cannot be reproduced.”

Of course we cannot see such memories in the photographs of Heinz Vontin. What we can see, however, is something that is not shown as a fact in the pictures. They show a private view of a particular section of a city at a certain point of time. It is this personal approach that makes the photo series of the Rollbergviertel so attractive – like most other good photographs. It is the relationship of the photographer to the person depicted which makes the picture interesting for the viewer.
But what impact do the photographs have on us today, 53 years later? Since Vontin‘s Rollberg district no longer exists, we look into a past without specific reference to the present. We do recognize the “That‘s how it was” as a sign from the distant past, but we just haven‘t witnessed it. We haven‘t seen it with our own eyes. Looking at these images makes us want to travel back in time to 1960, take a stroll around the neighborhood and experience the atmosphere that prevailed in the area. Knowing that the pictures show something that is irretrievably lost only strengthens that desire. In this sense, we can agree with Heinz Vontin when he writes us: “In preserving, I see the real value of photography.”

“From a real body, which was there, proceed radiations which ultimately touch me, who am here; the duration of the transmission is insignificant; the photograph of the missing being, as Sontag says, will touch me like the delayed rays of a star.”
― Roland Barthes, “Camera Lucida: Reflections on Photography”

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